Annäherungsversuch an eine Unbekannte

Im Frühjahr sorgten Dietiker Jugendliche wegen einer Schlägerei mit Spreitenbacher Altersgenossen für Schlagzeilen. Ist Dietikons Jugend wirklich so schlimm? Wie überhaupt ist die Jugend der Stadt? Jugendliche zeichnen im Gespräch mit dem «Dietiker» tendenziell ein negativeres Bild als erwachsene Jugendkenner.

«Die Jugend gibt es nicht», sagt Nadine Burtscher gleich zu Beginn des Gesprächs mit dem «Dietiker». «Sie ist sehr heterogen.» Burtscher war eine Vorzeigejugendliche. Sie sass im Dietiker Jugendparlament, machte im Dachverband Schweizerischer Jugendparlamente mit – davon anderthalb Jahre als Co-Präsidentin – und stellte dem Dietiker Stadtparlament «easyvote», eine neutrale Abstimmungshilfe für Jugendliche, vor. 2014 wurde sie, 19-jährig, für die EVP ins Dietiker Stadtparlament gewählt. 2018 erfolgte die Wiederwahl. Heute ist sie 25 Jahre alt und ausgebildete Psychologin.

Zur Dietiker Jugend hat Burtscher nach wie vor gute Kontakte. Sie bezeichnet diese als grundsätzlich «anständig». Es gebe aber «ein paar Nasen, welche die Grenzen überschreiten, wie es sie in jeder Altersgruppe gibt». Diejenigen, die Scheiss machen würden, seien «Ausreisser». Ähnlich argumentieren Michel Duc und Léa Prêtre, die als Jugendbeauftragte im Jugendzentrum arbeiten. Dort verbringen Schüler der Mittel- und Oberstufe, also 10- bis 15-Jährige, ihre Freizeit. Diese seien «weder gewaltbereit noch aggressiv», sagt Duc. Wenn etwas zu spüren sei, dann «mehr Sturm und Drang». Auch bei den örtlichen Ordnungs- und Sicherheitskräften heisst es, wie sich ein Mediensprecher der Kantonspolizei ausdrückt, dass die Dietiker Jugendlichen «grossmehrheitlich in Ordnung und nicht auffälliger als in vergleichbaren Zürcher Städten» seien.

«Sie reissen das Maul auf»

Anders sehen das Géraldine Füllemann und Clara Colisniuc. Füllemann ist 16-jährig, hat eben eine Lehre als Automobilfachfrau angefangen und ist Präsidentin des Dietiker Jugendrats. Zu ihren Hobbies gehört neben dem Jugendrat das Kickboxen. Der Jugendrat vertritt die Stimme der Jugendlichen unter 18 Jahren gegenüber Behörden und Politik. Um zu erfahren, was die Jugendlichen umtreibt, veranstaltet er jährlich eine Jugendsession. Die nächste findet am kommenden 21. September statt. Colisniuc ist 15-jährig und Füllemanns Freundin. Sie stammt aus Rumänien und lebt seit fünf Jahren in Dietikon. Sie hat eine Lehre als Detailhandelsfachfrau begonnen. In ihrer Freizeit ist Colisniuc gerne draussen, spaziert oder fährt Velo.

Viele Jugendliche seien gewaltbereit, es bleibe dann aber meistens bei verbalen Aggressionen, erklären Füllemann und Colisniuc. Letztere sagt: «Viele sind mega aggressiv und reissen das Maul auf.» Sie würden gerne «provozieren und schlägern», ergänzt Füllemann. Und ausländische Jugendliche würden sich aufspielen und prahlten, ohne sie wäre die Schweiz nichts. Mit schweizerischen Jugendlichen gebe es Konflikte.

Aber auch anderswo sehen die beiden Lernenden Probleme. «Manche Jugendliche drohen abzustürzen», hat Colisniuc beobachtet. «Sie fangen früh an Alkohol zu trinken und Haschisch zu rauchen.» Dafür und für Zigaretten gäben sie viel Geld aus.

Zürich zieht als Freizeitort an

Wo hält sich die Dietiker Jugend in ihrer Freizeit auf? Von den Jüngeren gingen manche ins Jugendhaus; es gebe einen Kern von rund hundert Schülerinnen und Schülern, die regelmässig kämen, berichten Duc und Prêtre. Im Jugendzentrum gibt es einen Töggelikasten sowie einen Pingpong- und Billardtisch. Man kann auch Dart spielen oder Gesellschaftsspiele machen. Es gibt einen Tanzraum, einen Musikraum, einen Aufgabenraum und Räume, um sich zurückzuziehen.

So ab 14, 15 Jahren gingen einige Jugendliche schon nach Zürich in den Ausgang, meistens an Feste wie das Zürifäscht oder die Streetparade oder an den See, sagt Prêtre.

Zürich ist auch für ältere Jugendliche ein beliebter Freizeitort, wissen Füllemann und Colisniuc. Treffpunkt sei der Bahnhof Dietikon, dann werde beschlossen, wohin man gehe.

«Es wäre wünschenswert, wenn die Jugendlichen mehr in Dietikon bleiben würden», meint Burtscher. Aber es gebe relativ wenige Veranstaltungen für sie in der Stadt. Es bräuchte mehr Konzerte und mehr Kultur für Junge. Trotzdem sei Dietikon nicht schlecht aufgestellt: Es gebe die Badi, einen Skaterpark, das Jugendzentrum, die Schulhausplätze oder Bars und Restaurants wie das Tomatino oder das Chilling. Schade sei, dass es in der Stadt kein Kino mehr gebe. Ein Thema, das die Jugend gemäss Burtscher seit vielen Jahren beschäftigt: «Wo ist der McDonald in Dietikon?».

Es fehlen Räume für Jugendliche

Einig sind sich Jugendliche wie Jugendkenner, dass in der Stadt ein oder mehrere Räume fehlen, wo ältere Jugendliche sich treffen und Veranstaltungen für sie abgehalten werden können. «Es gibt vieles, das den Jungen zugute kommt, aber nichts Exklusives, das für sie gemacht ist», sagt Burtscher. «Da hat Dietikon noch Potenzial nach oben.»

Dietikons Jugend sei «aktiv, aber nicht unbedingt politisch», hat Burtscher festgestellt. «Sie ist sicher nicht faul.» Sie sei kreativ: sie mache Musik und Videos und sie tanze, sie poste Inhalte in den sozialen Medien. «Die Jugend engagiert sich vor allem für Sachen, die ihr am Herzen liegen», so Burtscher weiter. Das beobachten auch die beiden Jugendbeauftragten. «Sie bringt sich insbesondere bei der Gestaltung von Freiräumen ein», sagt etwa Prêtre.

Jugendliche aber für die Politik zu begeistern, sei «nicht einfach», meint Füllemann, die Mühe hat, Mitglieder für den Jugendrat zu finden. Jugendliche würden sich vor allem punktuell mit Politik beschäftigen, erklärt Burtscher. Themen seien etwa der Klimaschutz, die Gleichstellung von Mann und Frau oder die Einwanderung. Doch das seien auch Fragen, mit denen sich Erwachsene verstärkt auseinandersetzten.

Was die Dietiker Jugend umtreibt

Was beschäftigt die Dietiker Jugend dann, wenn nicht die Politik? «Grösste Sorge ist, eine Lehrstelle zu finden, die Lehre durchzustehen und erfolgreich abzuschlies­sen», antwortet Füllemann. Es seien vor allem «Fragen der eigenen Identität», die Jugendliche umtreiben würden, weiss Prêtre: «Wer bin ich? Woher komme ich? Was mache ich? Wie sehe ich aus?» Burtscher wiederum sagt, Junge würden sich stark mit der Freizeitgestaltung beschäftigen und mit Räumen, die sie nutzen könnten. Aber auch die steigenden Anforderungen seitens der Gesellschaft spielten eine wichtige Rolle. Weiter seien die sozialen Medien eine Quelle von Fragen wie «Was gebe ich von mir preis?».

«Ich wünsche mir, dass die Jugendlichen in Dietikon offener werden», sagt Colisniuc zum Schluss des Gesprächs. Füllemann wünscht sich, dass ihresgleichen «weniger gewalttätig, verbal wie körperlich», wird. Duc wünscht sich, dass die Jugendlichen «die Diversität, die sie mitbringen, als Ressource nutzen können». Prêtre wünscht sich, «dass die Jungen ihren Weg finden». Burtscher, ganz Jungpolitikerin, wünscht sich, «dass die Jugend ihre Mitbestimmungschancen nutzt». Mitbestimmung sei nicht selbstverständlich, sie sei ein Privileg. Und sie wünscht sich, «dass die Jugendlichen miteinander so umgehen, wie sie möchten, dass mit ihnen umgegangen wird».

 

Text und Fotos: Martin Gollmer