Eine Strasse wird zum städtebaulichen Rückgrat

Ein unwirtlicher Durchgangskorridor für Autos soll dank der Limmattalbahn zum attraktiven Stadtboulevard werden: Das sieht ein Leitbild der Stadt Dietikon vor, das von der Architekturzeitschrift «Hochparterre» mit einem Preis ausgezeichnet worden ist.

So könnte dereinst die Achse Badenerstrasse – Zentralstrasse – Zürcherstrasse in Dietikon gemäss dem Projekt Stadtboulevard aussehen: Sechs- bis zehngeschossige Bauten reihen sich beidseits der Strasse. Läden, Restaurants und öffentliche Nutzungen säumen die Quartierplätze und wichtige Kreuzungen, neben denen bis zu 25-geschossige Hochhäuser aufragen. Dazwischen wechseln sich Wohnateliers hinter Vorgärten und Gewerbenutzungen mit breiten Vorzonen ab. In der Mitte fahren die Limmattalbahn und die Autos zwischen Bäumen und Parkplätzen. Sämtliche Häuser haben ihre Adresse am Boulevard, hier liegen die Eingänge. An Kreuzungen und Querstrassen fahren die Autos in Nachbarschafts- und Quartiergaragen. Das Leben pulsiert in der ersten Bautiefe, dahinter ist es ruhig.

Was wie Fiktion tönt, wird derzeit in Dietikon Realität. Dafür sorgt das Leitbild Stadtboulevard, welches das Stadtplanungsamt 2016 erarbeitet und herausgegeben hat und das Bauherren und Investoren seither für Bauvorhaben als Richtschnur dient. Die Achse Badenerstrasse – Zentralstrasse – Zürcherstrasse sei «einer der wichtigsten, aber gleichzeitig schwierigsten Stadträume», heisst es im Leitbild. Eine Verdichtung dieses Raumes sei als Instrument der Stadtentwicklung zu nutzen. Der Bau der Limmattalbahn könne dabei als idealer Aufwertungs- und Entwicklungskatalysator dienen.

Chance Limmattalbahn
Die Strassenverbindung in Talrichtung sei seit Jahrhunderten eine wichtige Verkehrsroute und damit Lebensader zwischen den Städten Baden und Zürich, heisst es im Leitbild Stadtboulevard weiter. Die Siedlungsentwicklung der vergangenen fünfzig Jahre habe sich jedoch von der Strasse abgewendet und diese zu einem technischen und störenden Verkehrselement degradiert.

«Die Führung der Limmattalbahn über diese Achse ist die Chance, diese langjährige Verbindung und Lebensader als städtebauliches Rückgrat wiederzuerwecken und zu einem ortsbaulichen, wiedererkennbaren Stadtraum aufzuwerten», steht im Leitbild hoffnungsvoll. «Mit der Aufwertung der Achse zum Stadtboulevard und einer Verdichtung der ersten Bautiefe können Synergien zwischen Siedlung und Verkehr besser genutzt und Probleme verringert werden.»

Wo steht die Umsetzung des Projekts Stadtboulevard heute? «Die Limmattalbahn ist im Bau. Diverse private Eigentümerschaften entlang der Achse befinden sich in verschiedenen Stadien der Planung», antwortet Stadtplaner Severin Lüthy. Was sind die nächsten Schritte beim Projekt? «Die Stadt hat mit dem Leitbild ihre Aufgabe erledigt. Nun sind die Privaten daran, ihre Liegenschaften gemäss dem Zielbild zu entwickeln», sagt Lüthy. Wann wird das Projekt fertig umgesetzt sein? Lüthy: «Das hängt von den Grundeigentümern ab und ist ein laufender Prozess, der sich über die nächsten Jahre und Jahrzehnte fortsetzen wird.»

«Beherzter Städtebau»
Für das Projekt Stadtboulevard hat das Stadtplanungsamt 2018 von der Architekturzeitschrift «Hochparterre» den Hauptpreis der sogenannten Stadtlandschau verliehen erhalten. Diese suchte nach der besten Denkarbeit in der Planung: Wer gestaltet die Zukunft erfinderisch? Wer verlässt die Pfade der Planungsroutine? Lüthy ist über den Preis sehr erfreut: «Er ist eine Anerkennung der Fachwelt für die geleistete Planungsarbeit und den Willen der Stadt, die Stadtentwicklung nicht dem Zufall zu überlassen, sondern die Dynamik der Limmattalbahn zu nutzen und eine qualitative Entwicklung herbeizuführen.»

Und was sagte die Jury der Stadtlandschau zum Projekt Stadtboulevard? «Dietikon legt in seinem Planwerk den Grundstein für einen beherzten Städtebau. Der Stadtboulevard entdeckt als grosse Geste altbewährte städtebauliche Entwurfsprinzipien wieder und setzt Dietikons Mitte – einst Dorf, heute Agglomerationsort – als Stadt in Szene. Die Jury überzeugt hat zum einen der mutige Ansatz, die bauliche Dynamik, die die Limmattalbahn auslösen wird, nicht zaghaft zu verteilen, sondern in städtebaulich gefasste Bahnen zu lenken und die erste Baureihe an der neuen Achse gezielt zum Zentrum der Verdichtung zu erklären. So kann sie sich von der Strasse zum Bouelvard mausern, zu einem vielfältig nutzbaren Raum und Ort des Aufenthalts. Zum anderen lobt die Jury, dass die Stadt den Bau der Bahn nutzt, um Siedlung und Verkehr, die sich immer bedingen, auch gemeinsam zu denken. Dieses Vorgehen und das Konzept sind für ähnliche Aufgaben in der Agglomerationslandschaft exemplarisch.» 

Text: Martin Gollmer, Illustration: zVg