Von Tschinggen zu Schweizern

Dietikon ist eine Hochburg der Italiener. Sie stellen mit Abstand die grösste Ausländergruppe in der Bezirkshauptstadt. Der «dietiker» hat mit drei von ihnen über das Gestern und Heute gesprochen.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Trümmern. Auch Italien litt unter den Zerstörungen. Zwei Millionen Arbeitslose zählte das Land nach dem Krieg. Die Schweiz dagegen war verschont geblieben; ihre Wirtschaft war intakt. Sie benötigte Arbeitskräfte – um zu expandieren, aber auch um den Anstieg der Löhne zu bremsen. Bald strömten Immigranten aus dem südlichen Nachbarland in die Schweiz. Sie stellten die zweite Einwanderungswelle aus Italien dar. Die erste fand schon im 19. Jahrhundert statt. Der Aufbau der Infrastruktur des jungen Bundesstaates benötigte Arbeitskräfte. Allein im Eisenbahnbau stellten die Italiener zeitweilig 80 Prozent der Beschäftigten.

 

Auch nach Dietikon kamen Italiener. 1958 wanderte der Vater von David Serratore ein. 1963 reiste Carmelo Conidi an. Nach Dietikon gelangte er 1966. 1963 immigrierte auch der Vater von Teodoro Deuterio.Dieser wuchs zunächst in Italien auf und kam erst 1973 als Siebenjähriger in die Schweiz. Teodoro Deuterio lebt seit 1991 in Dietikon.

 

1970 betrug der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz 17,2 Prozent. Davon waren über die Hälfte Italiener – und das ohne die «Saisonniers » mitzuzählen, die überwiegend ebenfalls aus Italien stammten.

 

Einst: Gebraucht, nicht geliebt

Die Italiener wurden damals von den Schweizern gebraucht, aber nicht geliebt. Auf dem Bau und in der Industrie mussten sie zu niedrigen Löhnen schuften. Viele waren in Barackenlagern untergebracht. Ihre Familien mussten sie in Italien zurücklassen. In Restaurants waren sie unerwünscht. Carmelo Conidi erinnert sich noch an Schilder in Wirtshäusern, auf denen «Keine Italiener» stand. Mehrmals wurde ihm «Du huere Tschingg» nachgerufen. Trotzdem sagt er: «Ich bin dankbar dafür, dass ich die Chance erhielt, in der Schweiz arbeiten zu dürfen.»

 

Und dann war noch das Problem mit der Sprache. Teodoro Deuterio kam direkt aus Italien in die 2. Klasse in der Schweiz, ohne ein Wort Deutsch zu kennen. «Ich verstand absolut nichts», sagt er heute rückblickend. «Ich wurde überhaupt nicht unterstützt und bekam Probleme mit den Lehrern.» Trotzdem sei «die Schweiz meine Heimat geworden, die ich nicht mehr missen möchte».

 

Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre hatte sich unter Schweizern zunehmend ein Unbehagen gegenüber den Ausländern breit gemacht. 1963 gründete Albert Stocker in Zürich die «Anti-Italiener-Partei»; bereits 1961 war die «Nationale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» entstanden. Ab Mitte der Sechzigerjahre folgten die sogenannten «Überfremdungsinitiativen».

 

Die Schwarzenbach-Initiative

Die bekannteste und erfolgreichste davon – die Schwarzenbach-Initiative – wurde vom Rechtspopulisten James Schwarzenbach 1968 lanciert. Der Ausländeranteil sollte auf 10 Prozent begrenzt werden – 350‘000 Immigranten hätten die Schweiz verlassen müssen. Schwarzenbach betrachtete die «braunen Söhne des Südens» als «artfremdes Gewächs» und befürchtete die Infiltration von «kommunistischen Agitatoren» – wie übrigens auch die Fremdenpolizei, die Gastarbeiter und ihre Organisationen bespitzelte. Die Initiative wurde 1970 zwar abgelehnt. Aber eine beträchtliche Minderheit von 46 Prozent stimmte Ja – bei einer Rekordbeteiligung von 75 Prozent. Abstimmen konnten damals jedoch nur Männer.

 

Und heute, fünfzig Jahre später? Fremdenfeindlichkeit gibt es noch immer in der Schweiz. Sie wird jetzt von der national-konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) erfolgreich bewirtschaftet. Überfremdungsinitiativen gibt es nicht mehr, aber Attacken auf das Personenfreizügigkeitsabkommen, das die Schweiz mit der Europäischen Union (EU) geschlossen hat.

 

Jetzt: Die beliebtesten Ausländer

Das Unbehagen der Schweizer ziehen heute andere Einwanderer auf sich. Die Italiener dagegen sind zu einem akzeptierten Teil der schweizerischen Gesellschaft geworden. Man schätzt an ihnen die Offenheit, die Kommunikations- und Lebensfreude sowie die gute Küche, die sie mitgebracht haben. Carmelo Conidi will irgendwo gelesen haben, dass die Italiener mittlerweile «die beliebtesten Ausländer in der Schweiz» seien. In Dietikon sind sie «gut integriert», wie Teodoro Deuterio sagt. «Sie sind selbstverständlicher Teil des hiesigen Lebens geworden», konstatiert
David Serratore.

 

Er selbst, als 1981 geborener Secondo, hatte keine Schwierigkeiten mit der Integration mehr. «Diese haben meine Eltern für mich vollzogen», sagt er. Er hat die Schulen hier absolviert, eine Lehre gemacht und leitet nun eine Versicherungsagentur mit sieben Angestellten. Der in der lokalen Politik und Wirtschaft gut vernetzte Serratore ist auch Präsident des Kartells der Ortsvereine Dietikons, einer Dachorganisation der hiesigen Vereine. Zudem ist er Aktuar der Associazione Sanpietresi, einer Vereinigung von Italienern, die aus San Pietro a Maida in Kalabrien stammen. Er selbst bezeichnet sich als «Musterbeispiel einer gelungenen Integration».

 

Serratore ist heute schweizerisch-italienischer Doppelbürger. Auch der 53-jährige Deuterio, der als Kaufmann arbeitet, hat sich wie viele andere Italiener mit seiner Familie einbürgern lassen. Andere haben das nicht getan. So etwa der 75-jährige Conidi, der während seiner Zeit in der Schweiz Lagerist und Chauffeur war. Er ist 2008 wieder ins sonnig-warme Italien zurückgekehrt, wo er nun als Rentner seinen Lebensabend verbringt. Dort werde er als «lo Svizzero» – der Schweizer – bezeichnet, so sehr habe er hiesige Tugenden wie Pünktlichkeit und Ordnungssinn während seines Aufenthalts in der Schweiz verinnerlicht. Seine zwischenzeitliche Heimat hat Conidi jedoch nicht vergessen: Jeden Monat stattet Conidi Dietikon einen Besuch ab, um  seine Kinder zu sehen.

 

Zwei Herzen in der Brust

Die, welche hier geblieben sind, besuchen aber regelmässig ihre alte Heimat. «Zwei Herzen schlagen in meiner Brust», sagt Serratore. «Eines für Italien, eines für die Schweiz». Auch Deuterio besucht immer wieder Italien. «Die Luft dort ist anders», sagt er. «Aber nach zwei Wochen bin ich froh, wenn ich wieder in die Schweiz zurückkehren kann.» An ihr schätzt er die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der Menschen. Wichtig ist für ihn auch, «dass man den Schweizern vertrauen kann und dass sie einem Respekt zollen».

 

In Dietikon lebten Ende September 2239 Italiener. Die Stadt selbst zählte zu diesem Zeitpunkt 26‘878 Einwohner. Die Italiener sind damit mit Abstand die grösste Ausländergruppe in der Gemeinde. Sie sind fast doppelt so zahlreich wie die Portugiesen und die Deutschen, die sich auf Platz zwei und drei der lokalen Ausländerrangliste befinden (vgl. Tabelle). In den Zahlen nicht inbegriffen sind dabei Doppelbürger; sie gelten in der Bevölkerungsstatistik als Schweizer.

 

Die Italiener in Dietikon sind in zahlreichen Vereinen organisiert. Ein wichtiger unter ihnen ist die Colonia Liberia Italiana. 1964 während der zweiten Einwanderungswelle gegründet, hilft sie Italienern bei der Integration. Sie unterstützt diese beim Umgang mit Behörden, Arbeitgebern und Sozialversicherungen. Sie veranstaltet unter anderem auch jährlich die beliebte Notte Italiana di Carnevale in der Stadthalle. Das nächste italienische Fasnachtsfest, an dem auch die Schweizer und andere Ausländer willkommen sind, findet am 23. Februar 2019 statt. Leitgedanke der Colonia ist «die Förderung des Verständnisses, der Toleranz, der Freundschaft und der Solidarität zwischen italienischen Immigranten, Schweizern und anderen Kulturen», wie Deuterio sagt. Er ist Präsident der Colonia, Conidi ihr Ehrenpräsident.